Seit ich mein altes Leben in Berlin hinter mir gelassen habe, kann ich mir aussuchen, wo ich wohne und wie lange ich bleibe. Weil ich schon immer mal den ganzen Winter in der Sonne verbringen wollte und nicht nur ein paar Tage, entscheide ich mich im Herbst 2021 fürs Überwintern auf den Kanaren. Zu dem Zeitpunkt bin ich in Schweden, wo es kontinuierlich kälter, dunkler und draußen ungemütlicher wird, je näher sich das Jahr dem Ende neigt. Wenn ich morgens arbeite und nach dem Mittagessen raus in den Wald gehe, bleibt einfach nicht mehr viel Zeit für Sonnenlicht.
Nachdem ich zum Ausgleich Kultur und Meetup-Treffen in Stockholm genossen habe, ist es am 30. November so weit: Ich fliege nach Teneriffa, wo ich zwei Monate in einer Wohnung mit traumhaftem Meerblick lebe. Es ist wie ein Eintritt in eine völlig andere Welt. Endlich kann ich wieder meine Sommersachen aus dem Koffer holen und an manchen warmen Tagen sogar im Atlantik baden.
Natürlich hat der Sprung aus dem hohen Norden, den ich eigentlich lieb gewonnen habe, auch seine sichtbaren Schattenseiten. Allen voran die leidige Maskenpflicht, wegen der ich vor allem auf Teneriffa bei einigen Einheimischen anecke. Außerdem empfinde ich die unzuverlässigen, oft schlecht getakteten Busse als gewöhnungsbedürftig. Doch der Mensch gewöhnt sich an alles und entwickelt dabei Tricks, politische Irrsinns-Maßnahmen bestmöglich zu umgehen. Vor allem bin ich glücklich, dass mir das G-Gedöns in Deutschland erspart bleibt, auch wenn es bedeutet, dass ich den Weihnachtsurlaub bei meiner Familie abblase und stattdessen mit einer paar Deutschen auf Teneriffa feiere.
Überwintern auf den Kanaren mit Wanderungen
Für meinen Aufenthalt auf Teneriffa habe ich mir bewusst eine Unterkunft im grünen Norden der Insel ausgesucht. Einen Ort mit Nähe zum mystischen Anaga-Gebirge mit seinen verwunschenen Lorbeerwäldern. Obwohl die Busfahrt dorthin manchmal eine kleine Ewigkeit dauert, begebe ich mich regelmäßig auf den steinigen, steilen Wegen auf Wanderschaft. Man kommt zwar nur langsam voran, doch die Ausblicke sind Magie. Wenn ich weder wandere noch arbeite, sitze ich am Strand La Arena und male bunte Fantasietiere.
In den kargen, stark zugebauten Süden von Teneriffa zieht mich nichts. Ich bin froh, die Betonwüste von Los Cristianos nur kurz aus den Augenwinkeln zu betrachten, während ich zum Hafen chauffiert werde. Mit der Fähre setze ich am 31. Januar 2022 über nach La Gomera.
Lieblingsinsel und Wanderparadies La Gomera
Ja, La Gomera! Die kleine grüne Schwesterninsel von Teneriffa wird für mich zu einem Seelenort. Könnte ich in die Vergangenheit reisen und mein Überwintern auf den Kanaren noch einmal planen, bliebe ich sicher viel länger als einen Monat. Natürlich hat der Aufenthalt auch ein paar Nachteile: Die Lebensmittel sind teurer als auf den größeren Inseln und die Auswahl für vegane und vegetarische Essgewohnheiten ist überschaubar. Die Energie von La Gomera erfüllt mich aber mit Lebensfreude. Außerdem fühle ich mich sehr inspiriert, mich kreativ auszudrücken.
Oft sitze ich malend an der Promenade von Playa de Santiago und eröffne im Februar den Online-Shop Fantasy Design by Annika. Dort biete ich Oberteile, Taschen, Kissen und Tassen mit meinen Bildern an. Als Kreative bin ich auf La Gomera in guter Gesellschaft. Zum Beispiel begegnet mir eine Camper-Familie aus Belgien. Vater, Mutter und die ungefähr zehnjährige Tochter malen zusammen am Meer, ganz harmonisch und entspannt. Die drei sind ausgestiegen aus dem Wahnsinn des alten Systems und schon seit August mit dem Wohnmobil unterwegs.
Das sonnendurchflutete Playa de Santiago ist ein Tummelplatz für Freigeister, Künstler, Kiffer, Aussteiger und Wanderer. Während man in einer der Bars ein Glas Wein genießt, kann man oft Straßenmusikern mit Gitarre lauschen. Immer wieder läuft mir der Schwabe Klaus über den Weg. Er haust in einer mit Graffiti übersäten Ruine am Strand und verwickelt jeden in Gespräche. In mich habe er sich verliebt, behauptet er und bettelt mich im nächsten Atemzug um ein paar Euros an. Ein harmloser Verrückter, der auf Kosten seiner Tochter sein Dasein fristet und von einer eigenen E-Gitarre träumt. In einem dachlosen Haus ohne fließend Wasser und Strom!
Durch Playa de Santiago führt der Hauptwanderweg von La Gomera. Jeden Tag sehe ich Backpacker, die meist auch aus Deutschland kommen. Überhaupt könnte man der Insel den Stempel „Man spricht Deutsch“ verpassen, vor allem dem nicht mehr ganz so hippiemäßigen Vorzeige-Touri-Ort Valle Gran Rey, der seit meinem Besuch im Sommer 2007 immens gewachsen ist. Ich bin froh, dass ich eine strandnahe Wohnung in Playa de Santiago gefunden habe. Der Ort hat sich das ursprüngliche Aussteiger- und Freigeist-Flair bewahrt, während sich die Nationalitäten trotz deutscher Dominanz vermischen. Ich höre also auch öfters Französisch, Englisch, Dänisch oder Niederländisch. Wer hier Urlaub macht, logiert lieber im Camper oder im Apartment statt im Hotel.
Wandern auf La Gomera
Mein größtes Highlight beim Überwintern auf den Kanaren ist Wandern auf La Gomera. Obwohl der Durchmesser der Insel nur 25 Kilometer beträgt, hat sie rund 600 Kilometer Wanderwege, die sich durch märchenhafte Barrancos und Wälder winden. Ich versuche, ungefähr alle zwei bis drei Tage auf Achse zu sein und möglichst viel von dieser fantastischen Landschaft in mich aufzusaugen.
Es gibt zwar Möglichkeiten, ein paar organisierte Wanderungen zu buchen, doch in Zeiten des Maskenzwangs mache ich um Ausflugsanbieter lieber einen Bogen. Zu meinem Glück sind die Busse zuverlässiger als auf Teneriffa, so dass ich mich zu den Startpunkten fahren lasse, sofern ich nicht in Playa de Santiago losgehe. Eine meiner Routen führt mich vom Nebelwald ins malerische Vallehermoso im Norden von La Gomera. Auch rund um Valle Gran Rey lässt sich eine Menge unternehmen. Im Künstlerdorf El Guro befindet sich der Einstieg zu einer feucht-fröhlichen kurzen Abenteuerwanderung zu einem Wasserfall. Der gut besuchte Weg schlängelt sich hauptsächlich durchs Flussbett und beinhaltet ein paar Kletterpartien. Bevor ich den Wasserfall erreiche, sind meine Füße schon klatschnass.
Während ich das hier schreibe, ist mir längst klar, dass ich in Zukunft noch viele weitere Wanderungen auf La Gomera machen werde. Schließlich kann man als digitale Nomadin mehr als einmal im Leben auf den Kanaren überwintern, wenn man es denn möchte.
Die kargen Inseln Fuerteventura und Lanzarote
Der Sprung nach Fuerteventura kommt mir im Nachhinein vor wie ein Rausschmiss aus dem Paradies. Aber wer will schon jammern? Immerhin habe ich mir den Aufenthalt auf der staubigen Wüsteninsel selbst ausgesucht. Beim Überwintern auf den Kanaren wird mir klar, dass ich offenbar stumm mit Bäumen kommuniziere und mir ihre Anwesenheit fehlt, wenn sie nicht mehr da sind. Beim Wandern fühle ich mich weniger erfüllt als auf Teneriffa und La Gomera. Es strengt mich sogar an! Weil auch das Wetter Anfang März zunehmend grauer, stürmischer und wechselhafter wird, machen sich öfters Frustrationen in mir breit. Während menschliche Kontakte vor Ort auf der Strecke bleiben, füttere ich die vielen Katzen in der Bungalow-Anlage und freunde mich mit einer eigenwilligen grauen Kätzin an. Ich nenne sie Grisabella wie die Hauptfigur aus dem Musical „Cats“.
Als ich am 31. März gezwungen bin, meine vierbeinige Freundin zurückzulassen, fließen viele Tränen. Sie scheint auch zu spüren, dass ich das Weite suche und weicht mir am Morgen meiner Abreise nicht von der Seite. Unser Abschied beschäftigt mich bis heute und zeigt mir einen negativen Aspekt des digitalen Nomadentums in aller Deutlichkeit auf: Es ist ein ständiges Loslassen, das tiefere Bindungen verhindert. Zum Glück habe ich die Freiheit, an Orte, die mir besonders gefallen, jederzeit zurückzukehren. Das hässliche Costa de Antigua und die Bungalow-Anlage stehen nicht auf dieser Liste, was ein Wiedersehen mit Grisabella und den anderen Katzen ausschließt.
Vanlife statt Airbnb und Co.?
Ja, mein Bungalow! Oder soll ich ihn besser als Bruchbude bezeichnen? Die besagte Airbnb-Unterkunft hat mir so einige Komplikationen beschert, die meisten davon betreffen die Toilette. Die ekligen Details erspare ich dir, denn eigentlich soll es in diesem Beitrag ums Überwintern auf den Kanaren gehen. Seit meinem Abgang aus Deutschland habe ich meine Wohnungen immer auf Airbnb gefunden. Es hat auch auf den Inseln gut geklappt – mit Ausnahme von Fuerteventura.
Zweimal begegnet mir auf Teneriffa die nette Reiseblogger-Kollegin Annik Gilles alias Misses Backpack. Sie hat sich einen kleinen weißen Camper zugelegt und ist von Berlin quer durch Deutschland, Frankreich und Spanien gefahren, um von Cadiz nach Lanzarote überzusetzen. Es ist ihr rollendes Zuhause mit Bett und Kochecke im Auto. Dank ihrer Mobilität reist Annik natürlich viel flexibler als ich. Doch könnte ich permanent auf engstem Raum im Auto wohnen? Ich bin mir unsicher, würde es aber mal eine Zeitlang ausprobieren.
Fortbewegung von Insel zu Insel
Mit ihrem Minibus erreicht Annik auf den Kanaren die wohl schönsten versteckten Ecken, ohne dafür wie ich lange auf Busse zu warten. Wir „zelebrieren“ eben zwei recht unterschiedliche Arten des digitalen Nomadentums. Beide haben Vor- und Nachteile und nur du entscheidest, welche für dich die richtige ist.
Vanlife bedeutet, dass die Fortbewegung von Insel zu Insel nur mit den Fähren von Fred Olsen und Naviera Armas möglich ist. Wenn es mal schneller gehen soll, hat man ohne fahrbaren Untersatz die Flüge von Binter und Canaryfly als Alternative. Am 30. April steige ich in eine Propellermaschine von Binter, um von Lanzarote nach Gran Canaria zu fliegen. Es gibt nämlich ab Arrecife keine Direktflüge zurück nach Schweden. Am Flughafen von Las Palmas endet mein Überwintern auf den Kanaren und jetzt erlebe ich nach einem langen, wechselhaften Sommer endlich den Frühling. (as)
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Hallo meine Liebe. Ich habe deine Erfahrung ‚überwintern auf den Canaren‘ mit Freude gelesen. Ich wünsche dir einen guten Start in den Frühling und hoffe wiedermal von dir lesen zu dürfen.
Liebe Grüße Sandra
Hallo Sandra, danke für deinen Kommentar! Ich wünsche dir auch einen guten Start in den Frühling und grüße dich aus Schweden.