55 Grad, 20 Minuten und drei Sekunden – das sind die Koordinaten des Fischerdorfs Smygehuk. Das Leben hat mich an den südlichsten Punkt von Schweden und der skandinavischen Halbinsel versetzt. An diesem ländlichen Fleck Erde genieße ich lange Spaziergänge an der Ostsee und durch die flachen Felder rund um das Dorf Smygehamn. Die Luft ist klar und tut mir gut.
Jeden Tag begegnen mir einheimische Spaziergänger, viele führen ihre Hunde Gassi. Die meisten Menschen in dieser Gegend grüßen mich freundlich und lächeln entspannt. 15 Kilometer östlich von Trelleborg scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Hier habe ich reichlich Gelegenheit, nach innen zu reisen. Diese Reise unterscheidet sich von allen bisherigen Touren und hat ein offenes Ende.
Smygehuk und sein morbider Charme
In Smygehuk beginnt die Saison erst im Mai 2021. Die Touristeninformation und der Souvenirladen für lokales Kunsthandwerk sind momentan geschlossen. Trotzdem habe ich während meiner Spaziergänge schon viel entdeckt. Die weißen Gebäude wie das alte Kaufmannshaus aus dem 19. Jahrhundert haben im Winter einen morbiden Charme.
An manchen Tagen ist der Himmel so wolkenverhangen, dass es die Sonne nicht schafft, durch die dicke Decke zu dringen. Im Zwielicht wirkt die Landschaft wie der Schauplatz eines Schweden-Krimis. Der Gedanke erscheint gar nicht so abwegig, denn auf dem Gelände befindet sich ein Grabhügel aus der Bronzezeit. In der Mitte wurden Leichen in Holz- und Steinsärgen bestattet. Grabbeigaben wie Schmuck und Waffen begleiteten die Seelen auf ihrem Weg ins Jenseits.
Sobald Sonnenstrahlen die Wolken durchbrechen, lässt sich erahnen, wie Smygehuk im Frühling und Sommer zum Leben erwacht. Ab April steigt auch die Wahrscheinlichkeit, zwischen den Gräsern einer Schlange zu begegnen. Schilder weisen darauf hin, dass hier unterschiedliche Nattern und Vipern leben. Im Januar schlummern sie noch tief und fest.
Die gewaltige Kraft der Ostsee
Wenn der Wind kräftig bläst, ereignet sich am südlichsten Punkt des kleinen Fischereihafens ein feuchtfröhliches Naturschauspiel. Die Wellen preschen mit Wucht gegen den runden Aussichtspunkt mit Windrose, die sowohl Smygehuks Koordinaten als auch die Entfernungen zu europäischen Metropolen anzeigt. 314 Kilometer bis Berlin, informiert einer der Strahlen. Die Wellen überspülen die Distanzangabe bei starkem Seewind, das Wasser spritzt wie eine Fontäne in die Höhe. Das tosende Meer zieht viele Familien mit Kindern in seinen Bann. Mich beruhigt das Rauschen der Ostsee, wenn die Gedanken in meinem Kopf mal wieder Achterbahn fahren.
Kalköfen aus dem 19. Jahrhundert
Verlässt man das unmittelbare Ufer, stößt man in Smygehuk auf einen Kalkofen aus dem 19. Jahrhundert. Bis 1954 wurde in der Gegend rund um Smygehamn Kalk abgebaut, in den Öfen gebrannt und als Baumaterial verwendet. Weitere Kalköfen sind in den Feldern östlich des Kirchendorfs Östra Torp verstreut. Während meiner Spaziergänge komme ich häufig an ihnen vorbei. Wenn ein eisiger Wind weht, suche ich kurz in den Öfen Unterschlupf.
Leuchtturm und Skulpturen
Kehren wir noch einmal zurück nach Smygehuk, dessen hervorstechendstes Bauwerk mit 17 Meter Höhe der weiße Leuchtturm ist. Er steht dort seit 1883. Im Jahr 2001 gingen nach 25 Jahren Dunkelheit in der Turmspitze die Lichter wieder an. Heutzutage gehört er zu einer Jugendherberge, in der voraussichtlich ab Mai wieder Gäste logieren.
Anstelle von Urlaubern treffe ich mehrere künstlerische Skulpturen. Für die Statue einer nackten Frau, die mit offenen Armen aufs Meer blickt, soll laut Gerüchten die Großmutter der Hollywood-Schauspielerin Uma Thurman dem Künstler Axel Ebbe Modell gestanden haben.
Vor dem Handwerksladen finde ich Spuren von Nils Holgersson und den Wildgänsen aus Selma Lagerlöfs Roman. Eine Figur der alten Leitgans Akka erinnert an den Abflug der Gänse vom Strand von Smygehuk Richtung Lappland.
Meine Lust zu fliegen hält sich in Grenzen. In mir wächst vielmehr die Sehnsucht, wieder zu einer Radreise aufzubrechen, denn der schwedische Südküstenradweg 3 führt direkt an diesem Ort vorbei. Er verläuft durch Smygehamn weiter nach Osten Richtung Ystad. Irgendwann werde ich das Abenteuer realisieren, vielleicht nicht 2021, aber irgendwann in den nächsten Jahren. Wenn es so weit ist, werde ich davon berichten. (as)
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